Bahn Extra-Leseprobe: Der Bahnhof Berlin Friedrichstraße: Die Grenzstation

Fast drei Jahrzehnte lang war der Bahnhof Friedrichstraße die Nahtstelle zwischen West- und Ost-Berlin. Hier endeten fast alle Transitzüge aus der Bundesrepublik sowie die S-Bahnen aus beiden Teilen der Stadt.
Artikel
teilen

Die Abriegelungsmaßnahmen vom 13. August 1961 wirkten sich für die Stadt Berlin und deren Umland besonders stark aus, weil hier einigermaßen intakte und genutzte Verkehrswege rigoros gekappt wurden. Der Bahnhof Berlin Friedrichstraße wurde damit zum Grenzübergang inmitten einer Stadt. Einen Kilometer vor West-Berlin gelegen, stellte er den letzten Halt auf Ost-Berliner Seite dar. Er kam in die Zuständigkeit des in der Invalidenstraße residierenden Reichs­bahnamts 4, das eigentlich für West-Berlin zuständig war. Bald nach dem Mauerbau wurde der Bahnhof Friedrichstraße in verschiedene Bereiche geteilt, die man strikt voneinander trennte.

Untergeschoss: West

Im unterirdischen Bereich verliefen eine S-Bahn- und eine U-Bahn-Strecke von bzw. nach West-Berlin; vier an der Strecke liegende Stationen in Ost-Berlin wurden ge- und verschlossen, die Station in Berlin Friedrich­straße durften allein West-Berliner nutzen. Sie hatten die Möglichkeit, hier umzusteigen, bei den Intershop-Kiosken für Westgeld Waren einzukaufen oder zur Grenzübergangsstelle zu gelangen. An diesem Verbindungsgang befand sich ein »Dienstübergang«, der an sich für Reichsbahner gedacht war, der aber später auch dazu diente, politische Funktionäre, Agenten oder andere Begünstigte des DDR-Systems ein- bzw. auszuschleusen. Auf diesem Wege flohen 1976 zum Beispiel Terroristen der Rote-Armee-Fraktion in die DDR (Quelle: Wikipedia).

Für den Nord-Süd-S-Bahn-Tunnel besaß der Bahnhof Friedrichstraße übrigens ein eigenes kleines Fernsprechnetz (Klein-Bahn-Selbstanschluss-Anlage, kurz Klein-Basa). Damit konnte von allen Stationen der (unbesetzten, aber bewachten) S-Bahnhöfe die Aufsicht Friedrichstraße, die Oberdispatcherleitung der S-Bahn, der Führungspunkt der Grenzübergangsstelle Friedrichstraße, die Transportpolizei Friedrichstraße und die Grenztruppen im Nordbahnhof und Potsdamer Platz erreicht werden. Es war ein internes Netz ohne Verbindungen zu anderen Basa.

Erdgeschoss: ­Grenzübergang

Das ebenerdig gelegene Zwischengeschoss enthielt den Grenzübergang, bestehend aus Passkontrolle, Zollkontrolle, Warteräumen, weiterhin Verhörräumen, Arrestzellen, Büroräumen, einem Kassenschalter für Einreise- bzw. Visagebühr sowie einer Wechselstelle für den Mindest­umtausch. Über das Erdgeschoss erreichte man außerdem (nach der Einreise-Kontrolle) den Ausgang auf die Straße, sprich, nach Ost-Berlin.

Obere Ebene: West und Ost getrennt

Die obere Ebene mit Fernbahn- und S-Bahn-Gleisen wurde nach dem Mauerbau in zwei separate Bereiche gegliedert. Der südlichste Bahnsteig, A, diente den Fernreisezügen, die von Berlin Zoo kamen bzw. dorthin fuhren. Für diese internationalen Reisezüge führte eine Weisung vom 10. Dezember 1961 ein neues Kontrollsystem ein. Damit wurden die Berlin- (später: Transit-)Züge geschaffen, die nur Verkehrshalte in Berlin und auf den Grenzbahnhöfen bekamen und ansonsten in der DDR ohne Halt fuhren. Die Weisung bestimmte, dass alle Züge zur Bundesrepublik Deutschland, die Berlin berühren, für Reisende auf dem Bahnhof Friedrichstraße – also am Bahnsteig A – beginnen und enden müssen. Daneben gab es internationale Züge, die vom Bahnhof Zoo über Berlin Friedrichstraße hinaus zu anderen Zielen fuhren; für sie war der Bahnhof ein Unterwegshalt.

Die zwei für den Fernverkehr vorgesehenen Gleise des Bahnsteigs A unterlagen eingehenden Kontrollen. Am Bahnsteig liefen scharfe Hunde unter den Wagen, um Fluchtwillige aufzuspüren. Das Gleisfeld wurde von Posten mit Langlaufwaffen überwacht. Personalkontrolleinheiten (zugehörig zur Staatssicherheit) gaben per Schlüsseltaste die Fahrstraße für das Stellwerk Friedrichstraße West (Friw) frei. Gleissperren in Hauptgleisen (!) und eine Schutzweiche verhinderten Zugdurchbrüche. Dabei hatten Kontrollen und Sicherungsmaßnahmen an den Wagen bereits im Abstellbahnhof Berlin-Rummelsburg begonnen. Neben den Fernbahngleisen, zur Straße hin, wurde im Bahnhof Friedrichstraße später eine zweite Trennwand aufgestellt, die den Blick auf die Fern­züge Richtung Westen versperrte. Der Bahnsteig B diente den West-Berliner S-Bahnen; sie kamen wie die Fernzüge über die Stadtbahn. Prellböcke markierten das Gleisende. Auch auf diesem Bahnsteig gab es einen Intershop-Kiosk. Am nördlichen Bahnsteig, C, endeten und begannen die S-Bahn-Züge für die Ost-Berliner. Die Gleise für diese Züge waren von den übrigen getrennt und schlossen als Gleisstumpf ab. Zwischen dem »Ost«-Bahnsteig C und den Bahnsteigen B/A wurde zwischen die Hallenträger eine trennende Drahtglaswand gezogen; nach Fluchtversuchen wurde sie 1982 durch eine Stahlwand ersetzt.

Außerhalb der Bahnhofshalle war es über Weichenstraßen möglich, von »West-Berliner« auf »Ost-Berliner« S-Bahn-Gleise zu wechseln. Nach der Auftrennung der S-Bahn in zwei Systeme ließen nur noch diese Gleise im Bahnhof Berlin Friedrichstraße einen Übergang von Werkstattzügen zwischen Ost und West zu. Der Bahnhof Friedrichstraße blieb so lange geöffnet, wie U- und S-Bahnen fuhren, also bis etwa 2 Uhr nachts. Wer danach kam, musste in speziellen Räumen des Bahnhofs übernachten.

Bereits 1962 überforderten die mannigfachen Kontrollen von Ein- und Ausreisenden die Kapazitäten des Bahnhofs. Deshalb entstand in nächster Nachbarschaft eine eigene Halle zur Abfertigung derjenigen, die aus der DDR ausreisen wollten, im Volksmund wegen der oft rührenden Verabschiedungsszenen »Tränenpalast« genannt.

Strenge Kontrollen und strikte, teils Menschen verachtende Abriegelung prägten den Betrieb für 28 Jahre. Mit dem Mauerfall musste der Bahnhof Friedrichstraße über Nacht einer komplett anderen Aufgabe gerecht werden. Galt es zuvor, die Reisen zu überwachen und zu reglementieren, so kam es jetzt darauf an, möglichst viele Reisende durch den Bahnhof zu schleusen. Bei aller Improvisation, die diese Umkehrung der Verhältnisse erforderte: Einen besseren Dienst hätte die Reichsbahn den Fahrgästen gar nicht erweisen können.

Reiner Preuss/GM

Bild Copyright: U. Kubisch/Landesarchiv Berlin

Ein Artikel aus Bahn Extra 05/10